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Jörg Mandernach
»Muddy Waters«
in Kooperation mit der Kunststiftung Baden-Württemberg
23. Juni – 21. Juli 2013

Vernissage am 23. Juni 2012

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Muddy Waters

[...] Manche Künstler brauchen ja recht lange, bis sie einem den Titel ihres Ausstellungsprojekts mitteilen. Als Jörg Mandernach sich für eine Ausstellung in unserem Kunstverein entschied, da fiel ihm bei  Brackenheim sofort der passende Name für sein Projekt ein: Muddy Waters – zu Deutsch: schlammiges Wasser.

Doch was hat Muddy Waters mit Brackenheim zu tun? Der erste Teil unseres Stadtnamens „Brack“ bzw. „Bracken“ hat ganz unterschiedliche Bedeutungen. 

Brack meint einmal einen männlichen Hund, insbesondere ein Spürhund, der das Wild auf der Fährte verfolgt. So wurde der Ortsname auch gedeutet: Wir haben ja in unserem Wappen als Wappentier die Bracke, ein Jagdhund, der auf Siegeln bis ins 14. Jahrhundert zurückzuverfolgen ist.

Brack nannte man in früherer Zeit aber auch einen dicken, plumpen Kerl, oder auch einen rohen, betrunkenen Mann.

Bracken hießen auch die Holzblöcke, die in den alten Baumkeltern direkt unter dem Kelterbaum lagen und auf das darunter liegende Holz drückten.

Im Niederländischen bedeutet „brack“ salzig. Diese Bedeutung hat sich im Deutschen in dem Begriff „Brackwasser“ erhalten. Brackwasser entsteht in Flussmündungen, wo sich süßes Flusswasser mit salzigem Meerwasser vermischt.

Diesen letzteren Wortsinn assoziierte der Geograph Jörg Mandernach mit einer der größten Flussmündungen weltweit, nämlich dem Mississippi-Delta, wo täglich etwa 1 bis 1,5 Millionen Tonnen an Sediment angeschwemmt werden, schlammiges Wasser, also muddy waters.

Durch regelmäßige Überschwemmungen dieses nährstoffreichen Süßwasser- und salzigen Ozeanwassergemischs entsteht ein flaches Schwemmland, welches extrem fruchtbar ist.

Der Musiker Mandernach denkt bei Muddy Waters natürlich sofort an einen der ganz großen, vor genau 100 Jahren geborenen US-amerikanischen Bluesmusiker, der eigentlich McKinley Morganfield hieß, aber als Muddy Waters in die Musikgeschichte eingegangen ist. Muddy Waters war der Spitzname, den ihm die Großmutter verpasste, da er – an einem kleinen Nebenfluss des Mississippi aufgewachsen – oft in diesem spielte und dabei schmutzig wurde.

Die Flussfracht des Mississippi, der angeschwemmte nährstoffreiche Schlamm, ist für den Künstler Mandernach aber auch eine Metapher für all das, was sich bei ihm selbst an Erfahrungen, Eindrücken, Zeichen, Bildern, Gegenständen und Texten als Treibgut angesammelt hat. 

Dieses ganz persönliche, über die Jahre ständig anwachsende Objekt-, Bild-, Zeichen- und Textarchiv nennt der Künstler seinen „Zettelkasten“.

Vor unserem Computerzeitalter fungierte der Zettelkasten als Gedächtnisstütze, als Hilfsmittel bei der Erstellung einer literarischen oder wissenschaftlichen Arbeit. In Büchern gelesene Informationen wurden mit Quellenangaben auf Zetteln notiert und in Kästen aufbewahrt und geordnet.

Einige wenige Schriftsteller haben die Notizen ihres Zettelkastens zu einem Hauptthema ihres Schreibens, ja geradezu zu einem literarischen Genre gemacht.

Zu ihnen gehörte der 1904 geborene Deutschschweizer Ludwig Hohl, zu unrecht so gut wie unbekannt geblieben, in Schriftstellerkreisen aber hoch geschätzt, so beispielsweise von Frisch, Dürrematt und Handke.

Ludwig Hohl ist mir eingefallen, als ich von Jörg Mandernachs Vorhaben erfuhr, die Schätze aus dem Zettelkasten an der Galeriewand aufzuhängen. Ludwig Hohl lebte im wahrsten Sinn des Wortes mit all seinem Notierten, zu dem ebenso der Gedankenblitz wie das Zitat, Randstriche zu Lektüren wie Maximen, Portraits und Beobachtungen gehörten. In seiner Genfer Wohnung hatte Hohl nämlich überall Wäscheleinen gespannt, an denen er seine Notate an Wäscheklammern aufhing. Dort hingen also Hunderte von Zetteln, deren Inhalte der Schriftsteller ständig vor Augen hatte. Er hatte sich sozusagen seine eigene Dauerausstellung eingerichtet.

Die Notate waren nicht chronologisch oder hierarchisch gegliedert, sondern in ihrer Verschiedenartigkeit und Gleichzeitigkeit einfach präsent. Hohl selbst sprach vom „Definitiven des Fragmentarischen“. Seinen letzten Notizband, an dem er jahrelang arbeitete, nannte er „Von den hereinbrechenden Rändern“. Er selbst konnte ihn nicht mehr abschließen, er wurde aus seinem Nachlass veröffentlicht.

Vielleicht war für Ludwig Hohl das Vorhaben auch unabschließbar – denn solange die Notizen nicht gedruckt waren, bestand ja die Möglichkeit, sie neu zu kombinieren, sie zu erweitern und zu ergänzen.

Jörg Mandernach hat sein Sammelgut nun nicht an Wäscheleinen aufgehängt, sondern zu einem verbo-visiven Band – von links nach rechts gehend – angeordnet. Auch er nimmt keine chronologische oder hierarchische Gliederung seiner Objekte, Zeichnungen, Fundstücke und Ausrisse vor. Sie sind alle gleichwertig, seien es nun die eigenen Skizzen oder die medial aus der Alltagskultur überlieferten Bilder, die eigenen oder gefundenen Wort- und Textfragmente.

Diese Installation nannte er muddy waters: die Teilstücke, die beispielhaft für den großen Fundus des Mandernach’schen Zettelkastens stehen, bilden zusammen den fruchtbaren Nährboden, aus dem heraus der Künstler seine Wand- und Raumarbeiten entwickelt. 

Mit der Operation der Zurschaustellung des Ausgangsmaterials lässt Mandernach den Betrachter teilhaben am Prozess der Umsetzung und Verarbeitung seines Treib- und Sammelgutes, an dessen Ende dann das Sediment in Form z. B. der hier ausgestellten Enkaustik- und Papierarbeiten steht. [...]